Unzählige audiovisuellen Produktionen mit tausenden von Bildern erinnern an vergangene Ereignisse und erklären uns die Gegenwart. Meistens werden uns diese Bilder vorgesetzt, als wären sie die Vergangenheit selbst oder die unmittelbare Realität. Um aber ihren Aussagenwert einschätzen zu können, brauchen wir Informationen über die Entstehung der Bilder und müssen wissen, wo und wie sie gefunden werden. Anhand konkreter Beispiele zeigt die Tagung, wie Bilder recherchiert, wie sie ausgewählt und analysiert werden können. Wie tragen Archive dazu bei, eine vergangene Realität zu erzählen? Wie entstehen sogenannte Nachrichtenbilder?
Im ersten Teil steht der Dokumentarfilm Révolution école, 1918-1939 (Les Films du Poisson, F 2016, 85′) der Regisseurin Joanna Grudzinska im Zentrum der Aufmerksamkeit und der Reflexion. Der preisgekrönte Film, für den Véronique Nowak die Recherchen machte, zeichnet sich durch besonders grossen Reichtum an Archivbildern aus. Er porträtiert die Bewegung der “Ecole nouvelle” (Reformpädagogik), die sich in den Zwischenkriegszeit in mehreren europäischen Ländern entwickelte und verbreitete.
Mit Véronique Nowak diskutieren wir über das Suchen und Finden der Dokumente, über den erstaunlichen, erst dank der Recherche entstandenen Filmkorpus und über die Funktion, welche die schliesslich verwendeten Bilder im Dokumentarfilm einnehmen. Wir interessierten uns für die Kompetenzen, welche die Rechercheurin mitbringt, sowie für die Rolle von Intuition und Entdeckerfreuden bei ihrer Arbeit. Ausserdem fragen wir nach Kenntnissen zu den Produktionskontexten und zu den Archiven – ob öffentlich oder kommerziell – und nach etablierten und neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen den Akteuren und Institutionen.
Zusätzlich zur Rechercheurin und Dokumentalistin wird die Rolle des Filmkonservators thematisiert. Michel Dind war der Ansprechpartner von Véronique Nowak in der Cinémathèque suisse, die viele Dokumente für den Film bereitstellte. Dind erläutert, wie er mit Anfragen umgeht, über welche Instrumente er als Konservator verfügt und welche besonderen Schätze in der Cinémathèque zu finden sind.
Da Révolution école während der Tagung nicht in voller Länge gezeigt werden kann, stellt die Produktionsfirma einen Link zum Film zur Verfügung. Die Teilnehmenden bekommen damit die Gelegenheit, sich auf die Tagung vorzubereiten.
Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem, was bei Dokumentarfilmen mit Archivmaterial normalerweise im Verborgenen bleibt: den Filmquellen und ihrer historischen Identität. Die Filme werden nicht als Fenster in die Vergangenheit betrachtet, sondern als Diskurs, der mit eigenen Mitteln bestimmte Ziele erreichen möchte, Ziele, die nur durch eine kritische Analyse verstanden werden können. Diese Analyse wird mit der speziellen visuellen Art von Serge Viallets durchgeführt. Viallet ist der Vater der berühmten Sammlung Verschollene Filmschätze (Mystères d’archives), die seit 2008 von Arte und INA produziert wird. An der Tagung werden die Teilnehmenden eingeladen, aus projizierten Ausschnitten aus Verschollene Filmschätze ein bestimmtes, zu vertiefendes Thema auszuwählen.
Nach dieser besonderen Entdeckungsreise mit Serge Viallet wird es den Teilnehmenden schwerfallen, eine aktuelle Reportage oder einen Dokumentarfilm mit sogenannten Archivbildern zu sehen, ohne sich zu fragen, was sie uns über die Gegenwart und über die Vergangenheit erzählen. Für die Angemeldeten wird eine Auswahl von Themen aus Verschollene Filmschätze über einen Vimeo-Link vollständig zugänglich sein. Wer mehr davon sehen möchte, kann sich die DVD-Editionen besorgen. Arte hat die ersten fünf Staffeln der Sammlung veröffentlicht.
Michel Dind, Cinémathèque suisse, Lausanne
Nach einer Lehre als Filmoperateur in Lausanne und der Ausübung des Berufs im Kino Atlantic wurde Michel Dind im Oktober 1981 von der Cinémathèque suisse eingestellt. Schnell übernahm er die Verantwortung für die Film-Vorführungen der Institution. Später erhielt er im Archivierungszentrum Penthaz eine neue Aufgabe: Suchen und Bereitstellen von Archivbildern für Dritte, wobei er insbesondere die Erhaltung und Nutzung der Schweizer Filmwochenschau der Jahre 1940-1975, dem begehrtesten Archivbestand der Cinémathèque bei Fernsehen und Filmproduktionen, übernahm. Von 2012 bis 2017 war er Leiter des Département Film. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Beschaffungs- und Dokumentationsabteilung derselben Abteilung.
Véronique Nowak, unabhängige Dokumentalistin-Rechercheurin, Paris
Von 2005 bis 2019 war Véronique Nowak Multimedia-Rechercheurin für mehr als sechzig Dokumentarfilme. Ihre Karriere begann bereits zu Beginn der 1980er Jahre. Nach dem Erwerb eines DUT (Diplôme universitaire en technologie) im Bereich Carrières de l’information, option documentation (Université René Descartes, Paris) arbeitete sie zunächst an der INA (Institut national de l’audiovisuel), dann als freie Rechercheurin für verschiedene Fernsehsender und Produktionsfirmen. 2017 wurde Revolution école 1919-1939 als eine von drei Produktionen für die Auszeichnung “Best use of footage in a history feature” von FOCAL (International Federation of commercial audio visual libraries) ausgewählt, und Véronique Nowak erhielt als “Best researcher” den Jane Mercer Award von FOCAL.
Serge Viallet, Regisseur, Paris
Im Jahr 2017 erhielt Serge Viallet von FOCAL International den Lifetime Achievement Award für die Sammlung Mystère d’archives und den Charles Brabant de la Scam Preis (Société civile des auteurs multimédia) für sein gesamtes Werk. Chef-Operateur nach dem Abschluss 1973 an der Ecole Louis Lumière (Paris) führte er ab 1985 Regie bei Dokumentarfilmen, die auf Archivbildern basieren. Im Jahr 2005 weckte der Film Tokyo, le jour où la guerre s’arrêta in ihm das Bedürfnis, sich näher mit den verwendeten Bildern auseinander zu setzen. Daraus entstand die Sendung Mystères d’archives, die er seit 2007 am Institut national de l’audiovisuel (INA) leitet und mitverantwortet. Der erste Beitrag wurde im Juli 2009 gesendet. Koproduziert von INA /ARTE/ YLE/ RSI, umfasst die Sammlung nun 55 Episoden von je 26 Minuten Dauer. Die sechste und letzte Staffel wurde gerade in Viallets «Produktionswerkstatt» begonnen.
Roland Cosandey
Roland Cosandey, Filmhistoriker und Mitglied des Kompetenznetzwerkes Film von Memoriav, ist Mitherausgeber der Rubrik Documents de cinéma, die seit 2010 auf der Website der Cinémathèque suisse veröffentlicht wird. Seine neueste Publikation ist die DVD-Box: Lausanne. Des Lumière à Godard 1896-1982, Cinémathèque suisse, Lausanne, 2019, 2 DVDs, Booklet mit 128 S..